Die EU-Kommission ermahnt die Bundesregierung zum wiederholten Male, mehr für die Binnennachfrage und Investitionen zu tun. Der weiter steigende Leistungsbilanzüberschuss stelle ein Wachstumsrisiko auch für Europa dar.

Brüssel - Es entspricht schon fast einer Brüsseler Tradition, wenn – wie am Donnerstag – im jährlichen Bericht über makroökonomische Ungleichgewichte der deutsche Exportüberschuss kritisiert wird. Ebenso kommt die Berliner Retourkutsche einem Ritual gleich. „Deutschland kann stolz auf seine industrielle Stärke und seine Exporte sein“, sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel nach der letzten Verwarnungsrunde: „Zugleich wollen wir die öffentliche und private Investitionstätigkeit beleben.“ Trotz der Einführung etwa des Mindestlohns hat sich am volkswirtschaftlichen Gesamttrend jedoch nichts geändert – der Überschuss in der Leistungsbilanz, die neben dem Handel mit Gütern und Dienstleistungen auch den Kapitalverkehr umfasst, steigt und steigt. Er liegt inzwischen bei 8,7 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung, was deutlich mehr als 200 Milliarden Euro entspricht.

 

Der Schwellenwert, den die Europäische Union mit der Zustimmung der Bundesregierung als Konsequenz aus der Eurokrise festgelegt hat, liegt bei sieben Prozentpunkten. Grund genug also für die Fachleute der Brüsseler Kommission, die über die Einhaltung europäischer Regeln wacht, auch in ihrem jüngsten „Warnmechanismus-Bericht“ ihre Kritik an Deutschland zu erneuern.

„Der sehr hohe und weiter wachsende Leistungsbilanzüberschuss und die starke Abhängigkeit von der Auslandsnachfrage stellen Wachstumsrisiken dar und erfordern eine anhaltende Neuausrichtung“, heißt es an die Adresse der Bundesregierung gerichtet. Zwar seien wegen der tendenziell höheren Sparquote „in Ländern mit einer alternden Bevölkerung wie Deutschland Leistungsbilanzüberschüsse zu erwarten“, aber in diesem Sinne hätten selbst positive Effekte wie der günstige Ölpreis, ein billigerer Euro und ein Anstieg bei den Lohnstückkosten um knapp zwei Prozent, der „vor allem der Lohndynamik zuzuschreiben“ sei, nicht zu einer Reduzierung des Überschusses geführt.

Brüssel rechnet nicht mit einer sofortigen Reaktion Berlins

Bis Februar will die Behörde die Ursachen des Überschusses genauer untersuchen und Deutschland in dem sechsstufigen Verwarnungsprozess möglicherweise vom dritten in das vierte Stadium befördern. Am Ende kann dies theoretisch zu Strafzahlungen führen. Die EU-Kommission macht sich allerdings keine Illusionen darüber, dass die neuerliche Warnung in Berlin sofort zu Taten führen wird: „Bei diesen hohen und dauerhaften Überschüssen wird es wohl keine Korrektur geben.“ EU-Währungskommissar Pierre Moscovici kündigte an, künftig stärker auf die Parlamente und die Sozialpartner in den Mitgliedstaaten zuzugehen, um mehr Verständnis für die Brüsseler Empfehlungen zu wecken.

Nach seiner Ansicht könnte eine ausgeglichenere deutsche Leistungsbilanz der europäischen Wirtschaft, die mit zwei Prozent im nächsten Jahr weiter eher moderat wachsen soll, zusätzlichen Schwung verleihen. „Die Gefahr eines anhaltend schwachen Wachstums und einer niedrigen Inflation im Euro-Währungsgebiet sollte insbesondere von den Ländern abgefedert werden, in denen bessere Ausgangsbedingungen für die Förderung von Investitionen bestehen“, schreiben die Finanzexperten: „Dies trifft auf Deutschland und die Niederlande zu.“ Außerhalb der Eurozone erwirtschaften noch Dänemark und Schweden solche Handelsüberschüsse.

Deutschland hält hohe Überschusse für unproblematisch

Weil Schulden zur Finanzierung von Leistungsbilanzdefiziten die Kehrseite der Überschüsse sind, gibt es in der Bundesrepublik seit 1967 ein Gesetz, das die Politik verpflichtet, auf ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht hinzuwirken. Dennoch hat sich die Lesart durchgesetzt, dass der hohe Überschuss unproblematisch sei, da deutsche Unternehmen die größten Zuwächse in Amerika oder Asien verzeichnen und der Exportüberschuss innerhalb der Währungsunion deutlich geringer ausfällt.

„Für die Eurozone ist der Überschuss nicht gefährlich“, sagt etwa Matthias Kullas vom Freiburger Centrum für Europäische Politik. Allerdings hat die EU-Kommission bereits im Vorjahr angemerkt, dass das günstigere innereuropäische Verhältnis „von einem Rückgang der Exporte in den Rest der Eurozone getrieben wird und nicht von einem stärkeren Import aus diesen Ländern“. Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferner sprach am Donnerstag dennoch von „ungerechtfertigter Kritik“. Sein grüner Kollege Sven Giegold bemängelte dagegen, dass Brüssel nicht stärker durchgreife: „Die EU-Kommission ist ein Hund, der bellt, aber nicht zubeißt.“