Die Mobile Jugendarbeit Sillenbuch musste sich im Jahr 2013 auffällig oft mit Spielsucht bei Jungs und Selbstverletzungen bei Mädchen beschäftigen.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Sillenbuch - Es sind Wetten, die sie kaum gewinnen können, die sie vorher eher den letzten Cent kosten. Immer wieder zieht es die jungen Kerle in die Sportwettbüros in der Innenstadt, sie schauen dort Fußball, setzen auf einen Verein und hoffen aufs große Geld. Oder sie hocken in einer Spielhalle vor einem Daddelautomaten und verzocken Euro um Euro. Erst aus Langeweile. „Aber irgendwann geht es darum, mit der Zockerei die Schulden zu tilgen“, sagt Simon Fregin. Die Spielschulden.

 

Simon Fregin, Sozialarbeiter bei der Mobilen Jugendarbeit in Sillenbuch, weiß, wovon er spricht. Im vergangenen Jahr sind bei ihm und seinen Kollegen viele Fälle von derartigem Spieltrieb bei Jungs bekannt geworden – mehr als sonst. So hat er es auch neulich in der Sitzung des Bezirksbeirats erzählt.

Die Eltern dürfen ja nichts erfahren

Das Wichtigste ist, dass die Eltern nichts vom kostspieligen Hobby der Söhne erfahren. „Das darf aus deren Sicht nie, nie passieren“, sagt Andrea Wollmann, die Kollegin von Simon Fregin. Deshalb hat sich auch kein Freiwilliger gefunden, der über sein Problem mit der Zeitung sprechen will. Zu groß ist die Gefahr, dass alles rauskommt.

Die Sozialarbeiter von der Mobilen Jugendarbeit in Sillenbuch haben zu 150 jungen Leuten aus dem Bezirk engen Kontakt. Wenn diese in die Einrichtung an die Bernsteinstraße kommen, brauchen sie Hilfe beim Schreiben von Bewerbungen. Oder sie haben eine heikle Frage, die sie ihren Eltern nicht stellen wollen. Das bestimmt das Tagesgeschäft der Sillenbucher Sozialarbeiter. Es tauchen aber auch Probleme jenseits der Routine auf.

Die jungen Leute kommen fast alle aus schwierigen Verhältnissen; oft tragen sie eine schwere seelische Bürde. Sei es, dass sie missbraucht oder gefühlsmäßig links liegen gelassen worden sind, oder sei es, dass sich Mutter und Vater haben scheiden lassen und die Kinder damit nicht klar kommen. Diese Biografien führen nicht selten zu einem schlechten Schulabschluss und schließlich zu einem Hilfsarbeiterjob – also zu einer klammen Kasse.

Das Gerücht vom schnellen Geld

Unter den Jungs kursiert offenbar das Gerücht, dass in Wettbüros und Spielhallen schnelles Geld zu machen ist. „Untereinander reden sie natürlich nur über den Gewinn“, sagt Simon Fregin. Wer nach einem Casino-Abend abgebrannt ist, leidet heimlich. Wenn Fregin und die anderen von der Spielerei erfahren, haben die Jungen meist ihr ganzes Geld verzockt.

Die Sozialarbeiter bohren nicht nach, sie warten, bis die Jugendlichen von sich aus davon anfangen, bis sie von Quoten anfangen und den Plänen fürs Wochenende. Und das ist im vergangenen Jahr eben auffällig oft passiert.

Das hat Simon Fregin und seine Kollegen aufhorchen lassen. Sie bieten den Jugendlichen an, das Geld im Notfall vorübergehend für sie zu verwalten. Oder sie raten, die Langeweile künftig anders loszuwerden, etwa beim Joggen oder beim Radfahren. Therapien und Beratungen sind tabu, denn dann würde passieren, wovor die Jungen am meisten Angst haben: Die Eltern würden Wind von der Sache bekommen.

Spielhöllen gelten unter Mädchen nicht als chic

Zocken ist ein Jungs-Problem. „Mädchen gehen nicht in Spielhöllen“, sagt Andrea Wollmann. Sie haben dort nichts zu suchen, sagen ihnen die Jungen. Ein Abend vor einem Daddelautomaten gilt aber auch unter Mädels nicht als sonderlich chic. Sorgen machen sich die Sillenbucher Sozialarbeiter bei einem Teil ihrer Mädchen wegen etwas anderem: Verletzungen, die sie sich selbst zufügen. Ebenfalls ein Thema, das Wollmann und die anderen 2013 recht oft beschäftigt hat. Was nicht heißt, dass sich jede, die zur Mobilen Jugendarbeit Sillenbuch geht, ritzt. Es ist eine Minderheit.

Es gibt Mädchen, die mit der Faust gegen die Wand hauen oder sich blutig kratzen. Aber die meisten schneiden sich, sie ritzen sich zum Beispiel das Initial des Angebeteten in die Haut, oder den ganzen Namen. Mal mehr, mal weniger tief. Meist verletzen sich die Mädchen an Stellen, die keiner sieht. Beliebt sind die Oberschenkel, sagt Andrea Wollmann. Auffällig sei, dass die Mädchen fast alle 13, 14 Jahre alt seien.

Ritzen ist keine Modeerscheinung

Wollmann erklärt sich das mit der Pubertät. Es ist die Lebensphase, wo sowieso Chaos regiert. Und wenn die Mädchen dann noch familiäre Probleme haben, kann es sein, dass sie das körperliche Leid brauchen, um sich zu spüren. Um eine Modeerscheinung geht es nicht, sagt Andrea Wollmann. „Die tun sich wirklich weh, das macht man nicht einfach so“, sagt sie.

In Gesprächen hat sie erfahren, dass sich die Mädchen beim Ritzen taub fühlen, dass sie den Schmerz nicht als Schmerz wahrnehmen. Er ist ein willkommenes Ventil. „Mädchen richten die Aggression eher gegen sich selbst als gegen andere“, sagt Sonja Lengerer, ebenfalls Sozialarbeiterin bei der Mobilen Jugendarbeit. Vielleicht lechzen sie nach Aufmerksamkeit.