Nach der Festnahme des zweiten mutmaßlichen Bombenlegers von Boston melden sich Scharfmacher zu Wort. Der aus dem Kaukasus stammende Mann kann vorerst nicht sprechen. Sein Bruder war schon früher im Visier des FBI.

Boston, USA - Dschochar Zarnajew ist gefasst. Er liegt in der Klinik. Wie man den mutmaßlichen Bombenleger von Boston abgeführt hat, hat Sandy Jeffe auf Fotos gesehen. „Der arme Kerl konnte nicht einmal laufen“, meint die Frau aus der Vorstadt Watertown. Der 19-Jährige ist blutüberströmt. Es heißt, er habe zwei Schussverletzungen. Sandy Jeffe zieht ihr Handy aus ihrer Jacke und zeigt Fotos, die sie gemacht hat. Es sind Aufnahmen von Männern , die Uniform tragen und Helme. „Hier sehen Sie, wie sich die Polizei vorbereitet.“ Sandy Jeffe will ihr Alter nicht verraten. Sie trägt einen bunten Schal, den sie beim Erzählen immer wieder zurechtzupft. Sie sagt, in den letzten Tagen habe es „so viel Tod und so viel Leiden“ gegeben.

 

Die Bomben an der Bostoner Marathon-Strecke , die die Zarnajew-Brüder am vergangenen Montag gelegt haben sollen, töteten drei Menschen und verletzten fast 180 zum Teil schwer. Auf ihrer Flucht vor der Polizei erschossen die Brüder einen Polizisten auf dem Gelände der Elite-Universität Massachusetts Institute of Technology und verletzen einen zweiten Beamten schwer. Es ist der schwerste Terroranschlag in den USA seit dem 11. September 2001. Am Wochenende ist das alles aber schon Geschichte. Die meisten Polizisten haben Watertown verlassen. Und die Angst ist gleich mitabgefahren. Es herrscht wieder eine entspannte Stimmung. Im Starbucks an der Mt. Auburn Street ist der Kaffee so dünn wie eh und je. Und in Boston haben die Red Sox am Wochenende ihr Baseball-Spiel gegen die Royals aus Kansas City gewonnen. Die Jagd auf die Terroristen ist vorbei. Das Leben geht weiter.

Sandy Jeffe aber macht sich Sorgen. „Hinter solchen Sachen stecken immer Hass und Intoleranz“, sagt sie. Sie sei in Alabama aufgewachsen. Dort im Süden der USA sei das Verhältnis zwischen Weißen und Afro-Amerikaner auch heute noch nicht vollständig befriedet. Sie wolle ja nichts heraufbeschwören, sagt Jeffe. Aber überrascht wäre sie nicht, wenn jetzt irgendwelche Typen einen Hass auf die Muslime in Amerika entwickelten. „Das wäre traurig“, sagt Jeffe. Man wisse doch noch gar nicht, was die beiden jungen Männer angetrieben habe.

Nun wollen alle das Warum wissen

„Ich bin so froh, dass er nicht tot ist“, sagt Jeffe: „Wir wollen wissen, wie es zu den Anschlägen kommen konnte.“ Das wollen alle. Der Gouverneur von Massachusetts, Deval Patrick, sagt: „Wir haben eine Million Fragen an ihn. Und diese Fragen müssen alle beantwortet werden.“ Doch Dschochar Zarnajew liegt in dem Krankenhaus, in dem sein Bruder für tot erklärt wurde, und ist nicht vernehmungsfähig. Er sei bei der letzten Schießerei mit der Polizei an der Zunge verletzt worden, heißt es. Noch gibt es keinerlei Hinweise auf das Motiv für die Anschläge. Doch in Amerika beginnt wieder eine schon überwunden geglaubte Debatte, die an die Zeit nach dem 11. September 2001 erinnert. Einige konservative Senatoren fordern, den 19 Jahre alten Mann vor ein Militärgericht zu stellen. Er gehöre – ähnlich wie die Gefangenen von Guantánamo – als „feindlicher Terrorkämpfer“ behandelt, sagen John McCain und Lindsey Graham. Für jahrelange Prozesse habe man keine Zeit. Das Problem dabei ist: Dschochar Zarnajew ist US-Staatsbürger. Im vergangenen Herbst erhielt er die Urkunde, ausgerechnet am 11. September. Matt Stuber lebt in der Norfolk Street im Bostoner Vorort Cambridge. Er ist ein Nachbar der Zarnajews. Tamerlan, der auf der Flucht erschossene ältere Bruder, sei ein extrovertierter Typ gewesen. „Wie ein Pfau“, sagt der 29 Jahre alte Stuber. An einer Stange vor dem Haus habe Tamerlan gerne Klimmzüge gemacht. Das sei ihm protzig vorgekommen, sagt Stuber: „Aber, nein: Ich habe niemals mit ihm geredet.“

Der 26 Jahre alte Tamerlan Zarnajew, ein Amateurboxer, lebt schon seit Jahren nicht mehr in der Norfolk Street. Sein jüngerer Bruder Dschochar habe sich ebenfalls lange nicht mehr dort sehen lassen, sagen die Nachbarn. Da ist etwa Carlos, der zwei Häuser weiter wohnt. Er sagt, Dschochar habe vor etwa drei Jahren bei einem Fahrversuch mit einem Auto seinen Gartenzaun beschädigt. Das sei aber das erste und letzte Mal gewesen, dass er den Mann gesehen habe. In diesem Moment kommt eine junge Frau mit schwarzem Kopftuch aus dem Haus, in dem die Familie Zarnajew wohnt. Sie wird von einem Dutzend Fotografen und Kameraleuten verfolgt. Es ist eine der Schwestern von Tamerlan und Dschochar. „Geht mir aus dem Weg“, schnaubt sie. Wenig ist bekannt über die Zarnajew-Brüder, was über Tratsch hinausgeht. Sicher aber ist, dass Beamte der US-Bundespolizei FBI Tamerlan Zarnajew vor etwa zwei Jahren auf Bitten der russischen Behörden mehrfach befragt haben. Es gebe keine Hinweise, dass der junge Mann tschetschenischer Herkunft in terroristische Aktivitäten verstrickt sei, hat das FBI nach Moskau geschrieben und die Akte geschlossen.

Im vergangenen Jahr dann reiste Tamerlan Zarnajew für mehrere Monate nach Russland und soll auch in der Kaukasus-Republik Dagestan gewesen sein. Vielleicht hat er sich dort radikalisiert, mutmaßen jetzt die Ermittler. Es findet sich ein Internet-Eintrag, in dem Tamerlan Zarnajew beklagt, er habe keinen einzigen amerikanischen Freund. Er verstehe die Amerikaner nicht. Vielleicht hat Zarnajew nach seiner Rückkehr aus Russland seinen jüngeren Bruder Dschochar beeinflusst und überredet, an dem Attentat mitzumachen. Oder es war anders. Ende 2011, sagt der Geschichtsprofessor Brian Glyn Williams der Zeitung „Boston Gobe“, habe ihn Dschochar angesprochen. Er habe ein ausgesprochenes Interesse an der Geschichte Tschetscheniens gezeigt. „Er wollte seine Wurzeln und seine Identität wieder entdecken“, sagt Williams. Warum dieses Interesse aber zur Entscheidung geführt haben könnte, einen Anschlag auf Marathonläufer in den USA zu verüben, ist nach wie vor völlig unklar. Das weiß nur Dschochar Zarnajew. Aber der kann noch nicht sprechen. Und ob er aussagen wird, weiß niemand.

„Er wollte seine Wurzeln wiederentdecken“

Ein paar übermüdet aussehende Polizisten stehen am Wochenende in der Franklin Street von Watertown. Es scheint, als seien sie abgestellt, um einer Armee von Journalisten den Weg zu dem Haus mit der Nummer 67 zu versperren. Dort arbeitet immer noch die Spurensicherung. Dort ist Dschochar Zarnajew aus einem Boot gezogen worden. Dort versteckte sich der 19 Jahre alte Mann, bis er nicht mehr konnte und abgeführt wurde. Frühmorgens schlüpft Robert Goodman durch die Polizeisperre vor seinem Haus. Er ist ein schlacksiger Mann von 54 Jahren, trägt eine Baseball-Kappe – und nur die dunklen Ringe unter seinen Augen geben Hinweis darauf, was er durchgemacht hat. Er sitzt am vergangenen Montagnachmittag mit Freunden beim Mittagessen in Boston. Nebenan, von Goodman nur durch die Scheibe des Cafés getrennt, quälen sich Tausende von Marathon-Läufern durch die letzten Meter des Rennens der Ziellinie entgegen. Dann explodiert die Bombe. Das Fenster zerbirst. Goodman bleibt unverletzt, doch er hat einen Schock: „All das Blut, all das Leiden.“

Dann kommt die Nacht zu Freitag, und dann kommt der Freitag. Watertown wird abgeriegelt, die Jagd auf den mutmaßlichen Terroristen legt eine ganze Region rund um die Großstadt Boston lahm. Fast 24 Stunden lang geht das so. Goodman sagt jetzt, es sei ein „schrecklicher Zufall“, dass er den Bombenanschlag auf den Marathon überlebt habe, nur um vier Tage später wieder mitten im Chaos zu stecken. Goodman lebt in dem Nachbarhaus, in dessen Garten das Boot steht, in dem sich Dschochar Zarnajew versteckt, bis er nicht mehr kann. Goodman sagt, er kenne den Besitzer des Hauses – „ein richtig freundlicher Nachbar“. Die Belagerung von Watertown ist inzwischen Geschichte. „Es war sehr, sehr schwer“, sagt Roberta Miller. Auch sie lebt in der Nachbarschaft von Hausnummer 67, Franklin Street. Am späten Donnerstagabend hört sie Schüsse und erschrickt bis ins Mark. Es ist das Feuergefecht, das sich Dschochar und Tamerlan Zarnajew mit der Polizei liefern. Es ist jener Schusswechsel, bei dem Tamerlan Zarnajew getötet wird. Es ist der Moment, von dem an Dschochar Zarnajew gewusst haben muss, dass er allein gegen eine Armee steht.