Die weißrussische Schriftstellerin und Regimekritikerin Swetlana Alexijewitsch erhält den Nobelpreis.

Stuttgart/Minsk - Orden und Bomben treffen meist Unschuldige, weiß ein geflügeltes Wort. Und wer es benutzte, sah sich auch bei der Verleihung der Nobelpreise bestätigt. Barack Obama kassierte ihn 2009 als Vorschuss für noch zu erbringende Leistungen als Friedensstifter im Nahen Osten. Die Hütte brennt dort inzwischen lichterloh. Der diesjährige Literaturnobelpreis dagegen ging an eine, die es mehr als verdient hat: an die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch. Für ihr „vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, wie es in der offiziellen Begründung heißt. Im Klartext: Für ihr Lebenswerk.

 

Doch selbst das ist zu kurz gesprungen. Alexijewitsch wird den Preis am 10. Dezember in Stockholm stellvertretend für eine Gattung entgegennehmen, die im Literaturbetrieb alles andere als Mainstream ist. Für Werke, in denen die Grenzen von Belletristik und Sachbuch verschwimmen. Es geht dabei indes nicht um Vermengung von Fakten und Fiktion, sondern um die Darstellung von Realität mit Techniken der schöngeistigen Literatur. Ein Klavier, auf dem Alexijewitsch virtuos spielt.

Bestechende Sprache

Es ist vor allem die selten gewordene Schönheit der Sprache, die den Leser sofort in Bann schlägt und bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt. Stimmungen und eigene Meinung transportiert sie vor allem mit Wortwahl und Syntax. Ihre Kommentare dampft sie auf das ein, was der Leser unbedingt braucht, um verstehen zu können. Mit Beschreibung von Details, die auf den ersten Blick nebensächlich erscheinen, eröffnet sie dem Leser zuweilen gänzlich neue Perspektiven und stößt die Tür zu Räumen auf, an deren Ende eine weitere Tür darauf wartet, aufgestoßen zu werden.

Einiges davon kommt trotz der hervorragenden Übersetzungen in ein halbes Dutzend Sprachen nicht in vollem Umfang beim westlichen Leser an. Denn das Russische lebt von Bildern, die man nur entschlüsseln kann, wenn man den historischen Kontext kennt, der sie erzeugt hat. Bei Swetlana Alexijewitsch sind es die Sowjetunion und die Nachbeben ihres Zusammenbruchs 1991.

Es ist die Sicht einer Betroffenen. Einer Insiderin, die selbst ein Produkt „Made in USSR“ ist. 1948 als Tochter eines Weißrussen und einer Ukrainerin in deren Heimat geboren, schreibt sie seit dreißig Jahren auf Russisch. „Gegen das Verdrängen und Vergessen von Erfahrungen, die nicht in die großen Gesellschaftsutopien passen wollen. Mit ihrem ganz besonderen Talent, Menschen zuzuhören und ihre Stimmen auch literarisch zum Tragen zu bringen, hat sie mit großer Beharrlichkeit dem Menschlichen einen Resonanzraum eröffnet“.

In Deutschland gut bekannt

So jedenfalls sagte es die Hanser-Berlin-Verlegerin Elisabeth Ruge, die Alexijewitschs Werk in deutscher Übersetzung begleitet, bei der Verleihung des Preises des deutschen Buchhandels an Alexijewitsch 2013. Die Nominierung für den Preis, so Ruges Laudatio, erhebe sie sogar zum „moralischen Gedächtnis“ einer Gesellschaft, die der Systemwandel in ihren Grundfesten erschüttert hat: Alexijewitsch, hinterfrage, „ob Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit nicht die besseren Alternativen wären“.

In der Tat. Alexijewitsch tut es bereits in ihrem ersten großen Werk: „Gespräche mit Lebenden und Toten“. Es geht dabei um Menschen, für die die Katastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl im April 1986 zum zentralen Ereignis ihres Lebens wird. Und schon damals wurde sichtbar, welch großer epischer Atem in der damals 38-jährige mit dem sanften Kindergesicht und den großen blauen Augen steckt.

Die Reportage wurde später als Theaterstück und zuvor als Hörspiel bearbeitet, dieses preisgekrönt. Ähnlich Furore machte die studierte Journalistin auch mit „Zinkjungen“: Reportagen aus dem Krieg der Sowjetunion in Afghanistan, oder mit Geschichten zu russischen Schicksalen nach dem Umbruch und dem Ende der Sowjetunion 1991.

Oft recherchierte sie für ihre Themen mehrere Jahre. Wohl wissend, dass Entschleunigung zu den Markenzeichen wirklich guter Reportagen gehört. Erst ein zeitlicher und räumlicher Abstand bieten Chance zu einer objektiven Wertung von Vorgängen und Fakten.

Alexijewitsch hat auch den Mut, sich filmischer Kunstgriffe zu bedienen. Sie hält sich beim Erzählen nicht immer an den chronologischen Ablauf, springt vor und zurück, lässt Handlungsstränge parallel, aber weit entfernt voneinander zueinander laufen, verliert dabei indes nie den Überblick und bringt sie am Ende gekonnt wieder zusammen. Und die Bilder, die sie beschwört, sind so eindringlich wie die sowjetischer Kamera-Leute, die mit ihren Mitteln darstellten, was im Text der Zensur zum Opfer gefallen wäre. Irgendetwas stimme da nicht, befand die kommunistische Kulturbürokratie häufig. Was genau, konnte jedoch niemand konkret benennen.

Und obwohl Alexijewitsch – anders als die 2006 erschossene kremlkritische Journalistin Anna Politkowskaja – Weißrusslands Präsidenten Alexander Lukaschenko, der sich am übernächsten Sonntag ein weiteres Mal wählen lassen will (siehe Politikteil), nicht frontal auf die Hörner nimmt, spürt offenbar auch er, das mit den Texten der Schriftstellerin „irgendetwas nicht stimmt“. Sie darf in Minsk, wohin sie 2011 nach längeren Aufenthalten in Paris, Stockholm und Berlin zurückkehrte, nicht öffentlich auftreten, ihr Telefon wird abgehört. Ob Europas letzten Diktator es wagt, auch mit einer Nobelpreisträgerin so umzuspringen, bleibt abzuwarten.