„Es wird schwer, diesen Tag noch zu übertreffen“, sagte Dustin Brown, der „Germaican“ aus Winsen an der Aller, nach seinem Wimbledon-Sieg über den früheren Weltranglistenersten Rafael Nadal.

London - Am Ende des abendlichen Interview-Marathons hatte Dustin Brown noch einen stillen Moment für sich. Er war bei der BBC und SkySport gewesen, bei den Amerikanern von ESPN, bei Fox Asia, dem hauseigenen Wimbledon-TV, bei Sendern aus Frankreich, Arabien und Japan. Und nun betrachtete er sich von der Terrasse des internationalen Fernsehzentrums erst die ferne Skyline Londons, die von der sinkenden Abendsonne in glühendes Rot getaucht wurde. Und dann sah er noch einmal den nahen Schauplatz an, den Centre-Court von Wimbledon, der ihn an diesem unvergesslichen 2. Juli 2015 zu einem global bestaunten Tennis-Gesicht gemacht hatte: „Es wird schwer, diesen Tag noch zu übertreffen“, sagte Brown, der „Germaican“ aus Winsen an der Aller.

 

Der aufregend unberechenbare Tour-Vagabund hatte im Match seines Lebens den zweimaligen Wimbledon-Champion Rafael Nadal mit 7:5, 3:6, 6:4 und 6:4 heim nach Mallorca geschickt – reif für die Insel. Es waren anderntags die genialen Schlagzeilendichter des Schmuddelblättchens „Sun“, die Browns Traumsieg auf dem heiligen Grün in drei Worten perfekt verdichteten: „Rasta la Vista“. Denn es war nicht einfach nur ein Sensationscoup, den der 30-jährige Paradiesvogel vom flachen norddeutschen Land da feierte, es war auch eine sportliche Offenbarung – ein willkommenes Spektakel, eine grandiose Abwechslung in der modernen Tennis-Ödnis mit ihren ewigen Duellen von der Grundlinie.

Brown siegte mit Flair, mit Raffinesse, mit Pep und Power, mit einem verzehrenden Ehrgeiz. Aber vor allem siegte er mit einer Angriffswucht, die 14 000 Zuschauer im Tennis-Mekka und Millionen rund um den Planeten faszinierte: 99 Mal stürmte der Lebenskünstler ans Netz, holte sich 71 Punkte und weckte nostalgische Erinnerungen an ein fast vergessenes Wimbledon der attackierenden Profis. „Was Brown gespielt hat, war nichts als fantastisch. So muss Wimbledon sein, mit unverwechselbarem Rasentennis“, sagte der schwedische Ex-Star Mats Wilander.

Tennis zum Verlieben

Es sei „einer der besten Siege und Auftritte eines nichtgesetzten Spielers in der Wimbledon-Geschichte“ gewesen, gab derweil der Altmeister John McEnroe zu Protokoll. Seinem Ruf als Meister der Unkalkulierbarkeit setzte sich Brown dort die Krone auf, wo es wirklich zählt – auf der Hauptwiese Wimbledons. „Das war Tennis zum Verlieben“, befand die ehemalige Tennis-Größe Martina Navratilova, „wann haben wir so was zuletzt noch in Wimbledon gesehen.“

Und tatsächlich: Browns perfekte Zirkusshow, die mit einem verrückten Stoppball im allerersten Spiel begann und mit einem Ass endete, diese einmalig schöne Aufführung war ein Hallelujah für die Tennis-Traditionalisten. „Ich war wie im Tunnel, es war ein absoluter Rausch“, sagte Brown später. Bei aller Zauberkraft: Es war auch ein Sieg der idealen Taktik. Brown habe niemals drei ähnliche Schläge hintereinander gespielt, sagte Nadal, „ich fand keinen Rhythmus, kein Vertrauen.“

So warf die Art und Weise dieses größten deutschen Sieges auf dem Centre-Court seit einer gefühlten Ewigkeit auch ein Licht auf den harten, gründlichen, nüchternen Arbeiter Brown. Einen Mann, der deutsche Pünktlichkeit und Organisiertheit schätzt und sich doch irgendwie auch eine „karibische Entspanntheit“ zuschreibt. Er ist auch einer, der sich im aufwendigen Tourleben meist selbst zurechtfinden und finanzieren muss, der taktische Kniffe und Schliche gegen alle möglichen Konkurrenten auszutüfteln hat. Der 30-jährige ist in der Regel sein eigener Trainer, Reiseorganisator und Manager. Schon in frühen Karrierejahren gondelte er mit seinem berühmt gewordenen Campingwagen von Turnier zu Turnier, um Kosten zu sparen. „Geld war immer ein Thema bei mir. Tennis ist ein teurer Sport“, sagt Brown.

Ein Match fürchterlich vergeigt

Vor ein paar Wochen, als er bei einem Challenger-Turnier in Rom ein Match fürchterlich vergeigte, ärgerte sich Brown vor allem über eins: Das verpasste Ticket fürs Wimbledon-Hauptfeld, den verpassten sicheren Lohnscheck für das Erstrunden-Mitwirken. So musste er sich über die Qualifikation, über Siege gegen den Rumänen Ungur, den Russen Karatsew und den Italiener Arnaboldi an die Church Road durchschlagen – und damit auch zum Grand-Slam-Märchensieg gegen Nadal und etwa 80 000 Euro Preisgeld.

War das jetzt ein Durchbruch, eine Initialzündung für einen späten, dauerhaften Aufschwung des Weltenbummlers, der mit seinen wehenden Rastazöpfen sogar auf dem Titelblatt der „Times“ gelandet war? Vor zwei Jahren, als Brown schon mal einen ehemaligen Champion gestürzt hatte, den Australier Lleyton Hewitt, verlor er danach sang- und klanglos gegen einen Franzosen namens Adrian Mannarino. „Bei mir weiß man nie, woran man ist“, sagt Brown.