Angehörige der 43 vermissten mexikanischen Studenten bangen seit drei Wochen um ihre Kinder. Die jungen Leute wollten demonstrieren und fanden wohl den Tod. Behörden entdecken viele Massengräber, aber nicht das der Verschollenen.

Korrespondenten: Klaus Ehringfeld (ehr)

Iguala - Jetzt sind es schon drei Wochen ohne Lebenszeichen. 22 Tage immer die gleiche Achterbahnfahrt: Hoffen und Bangen, sich Mut machen und fast verzweifeln. Margarito, den Vater, hat das mürbe gemacht. Er ist ein einfacher Mann von 57 Jahren, dem es schwerfällt, Worte und Gefühle zusammenzubringen. Aber man merkt, dass ihm das Herz vor Schmerz zerspringen will, wenn er von Carlos, dem Sohn spricht. „Er ist doch ein friedlicher Junge, er hat mit niemandem Streit“, sagt Margarito. „Ich verstehe das nicht.“

 

Der hagere Mann klammert sich mit knochigen Fingern an seinen Jutebeutel. Darin bewahrt er das Foto seines Sohnes auf, ein verschwommenes Farbbild von der Abiturfeier. Es zeigt einen schmalen Jungen mit schwarzen Haaren. Jetzt ist Carlos 19 und studiert im ersten Semester Lehramt auf der Landuniversität von Ayotzinapa. Dort werden Berufsschullehrer für die armen und unterprivilegierten Gemeinden des mexikanischen Bundesstaats Guerrero ausgebildet.

Seit dem 26. September aber ist Carlos verschwunden. Gemeinsam mit 42 Kommilitonen. Die Spur der jungen Männer verliert sich gut 100 Kilometer nördlich von Ayotzinapa in der Stadt Iguala, wo die Studenten erst von Polizisten und Pistoleros des örtlichen Drogenkartells beschossen und dann verschleppt wurden.

Die Geschichte von Carlos, die längst auch die seines Vaters Margarito ist, erzählt von einem unfasslichen Verbrechen, einem ohnmächtigen mexikanischen Staat und einer allmächtigen organisierten Kriminalität – und von einer Gruppe 18- bis 23-jähriger Studenten, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren und offenbar mit ihrem jugendlichen Übermut korrupten Politikern und skrupellosen Mafiabossen auf die Füße getreten sind. Man muss das Schlimmste befürchten. Mexiko ist das Land der Morde und Massengräber. 20 000 Opfer werden Ende des Jahres zu verzeichnen sein in dieser Schlacht zwischen Mafia und Staat, in der die Brutalität keine Grenzen mehr kennt. In einem der größten Industriestaaten der Welt stirbt man schnell, wenn man der dunklen Macht zu nahe kommt. In Deutschland gab es 2013 knapp 600 Tote durch Gewaltverbrechen, in den USA circa 13 000.

Bundespolizisten führen ihre lokalen Kollegen ab. Foto: EFE

Drei Wochen ist das Verbrechen an den Studenten jetzt her, und so lange wartet der Vater auch schon hier in der „Escuela rural Raúl Isidro Burgos“ in Ayotzinapa auf Nachrichten von seinem Sohn. Die Uni liegt eingebettet in die weichen und grünen Hügel Guerreros, eine halbe Stunde und viele Serpentinen von der Bundeshauptstadt Chilpancingo entfernt. Guerrero gehört zu den ärmsten Regionen im Boomland Mexiko. Manche Gemeinden seien so wenig entwickelt wie afrikanische Dörfer, sagen die UN. Auch Margarito, der seinen Nachnamen aus Angst lieber nicht nennen will, lebt von der Hand in den Mund, hat sein Leben lang für Mais und Bohnen auf dem Feld den Rücken krumm gemacht. Carlos, das dritte von vier Kindern, wollte da raus. „Er ist der Ehrgeizigste, er will vorwärtskommen“, sagt der Vater.

In den ersten Tagen waren auch die Mutter und Schwester von Carlos mit da. Die Familie musste Blutproben abgeben für die DNA-Analyse. Mutter und Schwester sind inzwischen wieder daheim, jemand muss ja das Feld bestellen. Aber Margarito will nicht weichen. Er sitzt oft bis tief in die Nacht mit anderen Angehörigen der 43 Opfer auf dem Sportplatz der Uni zusammen. Dann erzählen sie sich von ihren Kindern, stützen sich so gegenseitig. Der Sportplatz ist längst Therapieplatz, Freiluftkirche, Suppenküche und Aktionszentrum. Hier beraten die Angehörigen ihre nächsten Schritte, entwerfen Petitionen an Politiker. Und ihre Forderung ist immer die gleiche: „Lebend wurden sie uns genommen, lebend wollen wir sie zurück“ – so haben sie es auf unzählige Transparente geschrieben und wütend auf Demonstrationen gerufen.

Manche Eltern sind den Tränen nah, wenn man mit ihnen spricht, andere sind apathisch, viele wollen überhaupt nicht mehr darüber reden, was passiert ist. Und bei Margarito hebt und senkt sich der Pegel der Hoffnung, so wie die Sonne auf- und untergeht. Er habe keine Albträume, sagt er. Er träume überhaupt nicht. Aber er denkt immer an den letzten Besuch des Sohnes zu Hause, den letzten Anruf vor der fatalen Fahrt. „Mir geht es gut, Papa!“ Das war das letzte Lebenszeichen. Zwei Tage danach begann die Reise ohne Wiederkehr.

Früh am Morgen des 26. September zogen rund 100 Studenten von Ayotzinapa in das zwei Stunden entfernte Iguala, eine Stadt so groß wie Heidelberg. Sie wollten Spenden sammeln, das Lehrerseminar von Ayotzinapa ist traditionell politisch aktiv. Marx, Lenin, Mao und Che Guevara prangen an einer Wand am Sportplatz. Nach der Sammlung kaperten die jungen Leute drei Busse, weil sie damit zu einer Gedenkfeier für den Massenmord von Soldaten an Universitätsstudenten 1968 in Mexiko-Stadt fahren wollten.

Aber Polizisten versperrten noch in Iguala den Bussen den Weg und eröffneten ohne Zögern das Feuer. An dem Überfall beteiligten sich auch Männer in Zivil, Killer der „Guerreros Unidos“, der örtlichen Mafia. Sechs Menschen starben sofort, darunter zwei, die nur zufällig an dem Schlachtfeld vorbeikamen. Anschließend nahm die Polizei 43 Studenten einfach mit. Einer konnte fliehen. Aber er kam nicht weit. Am nächsten Tag fand man ihn fürchterlich verstümmelt. Die Mörder hatten ihm die Gesichtshaut abgezogen und die Augen ausgestochen.

Was mit den 43 anderen geschah? Vermutlich haben die Polizisten die verängstigten Studenten an Mitglieder der „Guerreros Unidos“ übergeben. Die Mörder verschleppten ihre Opfer anschließend auf die bewaldeten Hügel außerhalb von Iguala. Dort exekutierten sie die jungen Leute. Anschließend warfen sie die Leichen in ein Massengrab, aufgeschichtet wie bei einem Lagerfeuer. Sie legten Äste und Baustämme darüber, übergossen diese mit Benzin und zündeten sie an. Diese Rekonstruktion stützt sich auf Aussagen von festgenommenen Mitgliedern der Killertruppe und von Anwohnern, die davon berichten, dass noch in der Nacht des 26. September Pick-ups in die Hügel hinter der Stadt fuhren.

Dort, wo die dichte Besiedlung mit Häusern in gelegentliche Blechhütten übergeht, wo aus Straßen erst Schotterwege und dann Schlammpisten werden und sich Dornengestrüpp und tropische Pflanzen die grünen Hügel hochfressen, drehen Suchmannschaften aus Anwohnern und Selbstverteidigungsgruppen jeden Stein um. Es sind Männer mit dunkler Haut und indianischen Gesichtern in Sandalen und mit Macheten, die im Dickicht nach verräterischen „planierten Stellen“ suchen, wie Napoleón Hernández sagt. Der studierte Anwalt, Sonnenbrille, Baseballmütze und oranges T-Shirt, leitet an diesem Tag einen 20 Mann starken Suchtrupp. Sie gehen einem Hinweis aus der Bevölkerung nach.

„Aber hier kann niemand 43 leblose Körper raufgeschleppt haben“, sagt Hernández. Vielleicht haben die Mörder die Jungen in Gruppen von fünf bis zehn aufgeteilt, mit vorgehaltener Waffe die Hügel hochgetrieben und sie an Ort und Stelle erschossen. „Wir haben hier in den letzten Wochen zwanzig Gräber gefunden. Aber die Studenten waren nicht dabei“, sagt Hernández. Die Leichen stammen von anderen unfasslichen Massakern aus diesem Drogenkrieg. Auch an diesem Tag brechen Hernández’ Männer die Suche nach fünf Stunden ab. Außer ein paar Patronenhülsen aus Jagdgewehren haben sie nichts gefunden.

Vielleicht werden die 43 jungen Leute nie mehr gefunden. Sie würden dann die Liste der 24 000 Vermissten verlängern, die Mexikos Menschenrechtskommission zählt. Es sind Kollateralopfer des Drogenkriegs. Spitzel, Pistoleros rivalisierender Gruppen, Ladenbesitzer, die kein Schutzgeld mehr zahlen konnten, oder eben Unbeteiligte wie die Studenten. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass es in der Hälfte der 32 Bundesstaaten Massengräber gibt, Teile Mexikos wären demnach ein riesiger anonymer Friedhof.

Noch kein Verbrechen zuvor hat derart deutlich zu Tage gefördert, wie verfilzt Politik und Verbrechen auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene in Mexiko sind. In Iguala arbeitete der Bürgermeister Hand in Hand mit den „Guerreros Unidos“, zwei Brüder seiner Frau standen im Sold des Beltrán-Leyva-Kartells. Seit dem Verschwinden der Studenten ist das Ehepaar auf der Flucht, aber Haftbefehl wurde dennoch gerade erst erlassen. Dabei gehen Empörung und Entsetzen längst schon um die Welt: Vereinte Nationen, Europäische Union und internationale Menschenrechtsorganisationen fordern Aufklärung. In ganz Mexiko demonstrieren Menschen gegen Politik und Mafia, und Studenten zünden Regierungsgebäude an.

Aber Igualas gibt es viele in Mexiko. Vor allem in ländlichen Gebieten unterwandert die Mafia seit Jahren systematisch Teile der Machtapparate oder übernimmt sie ganz. Meist kontrollieren die Verbrecher die Polizei, den Bürgermeister, selbst Gouverneure. Manchmal aber sind die Staatsdiener  gleich selbst Mafiosi. Die Übergänge sind fließend. Bestimmte Landstriche sind so vollständig von der organisierten Kriminalität gekapert worden. Uneinig sind sich die Experten nur, wie tief die Mafias in das Land eingesickert sind. Manche Experten gehen davon aus, dass rund ein Drittel der 32 Bundesstaaten in Teilen von den Kartellen regiert werden. Pessimisten vermuten, dass in drei Vierteln aller Gemeinden die Mafia präsent ist, sei es mit Produktpiraterie, Prostitution oder Drogenhandel.

Aber warum wurden gerade die 43 aufmüpfigen Lehramtsstudenten für ihren Protest so grausam bestraft? Vermutlich bestand ihr Verbrechen darin, die Hoheit der organisierten Banden herausgefordert zu haben. „In Bundesstaaten wie Guerrero, wo es traditionell starke soziale Organisationen gibt, fürchten die Mafias um ihren Herrschaftsanspruch“, erläutert Gustavo Trejo, ein Experte für organisierte Kriminalität. Dann reagierten sie mit „exzessiver Gewalt“, um zu zeigen, wer das Sagen habe.

Margarito hat noch Hoffnung. Foto: Ehringfeld

All die Theorie ist Margarito, dem Vater, schrecklich egal. Er will nur, dass endlich die Achterbahnfahrt aufhört. Jeden Tag kommen neue Nachrichten von neuen Gräbern und neuen Festnahmen. Am Freitag schnappten Sicherheitskräfte Sidronio Casarrubias, den Anführer der „Guerreros Unidos“. „Jetzt müssen wir doch bald erfahren, was passiert ist, oder?“, sagt Margarito verunsichert. Und dann wiederholt er wieder diesen Satz: „Carlos war ein friedlicher Junge, er hatte mit niemandem Streit. Ich verstehe das nicht.“ Und zum ersten Mal hat sich in die Worte des Vaters die Vergangenheitsform geschlichen, wenn er über den Sohn spricht.