Nach dem Absturz-Schock im Stuttgarter Weltweihnachtscircus ist das Ende happy. Rekordreich wird bis zum 6. Januar die Tradition auf dem Wasen gefeiert. Was sind die Höhepunkte? Hier unsere Besprechung des neuen Programms.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - In der Pause der Vorpremiere hatte der 82-jährige Henk van der Meijden, ein zirkusverrückter Holländer, der sich jedes Jahr weltweit etwa 400 verschiedene Manegennummern anschaut, im Foyerbistro beim Bier einem Journalisten mit leuchtenden Augen erklärt, warum seine Parade der Weltrekorde so reizvoll sei. „Bei uns gibt es kein Fake“, sagte der Chef, der vor 27 Jahren den Stuttgarter Weltweihnachtscircus erfunden hat, „alles ist live, echt, das Publikum ist nah dran, wenn Emotionen hochkochen“.

 

Artisten stürzen sieben Meter in die Tiefe

Bei der ersten Nummer nach der Pause hat dann das von ihm so geliebte Stuttgarter Publikum live, nah dran, emotional und schockierend echt mitbekommen, wie gefährlich Artisten leben. Dass bei ihren Darbietungen selten etwas Schlimmes geschieht, heißt nicht, dass die Gefahren gering sind und man sie stets im Griff hat.

Bei der spektakulären Hochseilnummer mit einer Pyramide aus sieben Fahrradfahrern, die in der Weltrekord-Klasse diesmal eine der Höhepunkte auf dem Wasen ist, stürzten am Abend vor der Premiere Artisten der kolumbianischen Werner Guerrero Gruppe mit ihren Fahrrädern aus etwa sieben Metern in die Tiefe. Zwei der sieben Artisten standen nicht mehr auf. Zwar war der Manegenboden mit Luftkissen gepolstert, doch herunterfallende Fahrräder hatten die Kolumbianer getroffen. Zirkusmitarbeiter zogen den Rand des Kissens hoch, um den Verletzten Sichtschutz zu bieten.

Bereits am Donnerstag durften die Artisten Christiano Baheba Celis und Yeraldi Adrada das Krankenhaus verlassen und zurück auf den Wasen. Sie hatten leichte Kopfverletzungen erlitten, mussten genäht werden. Zur Beobachtung hatten die Ärzte sie für eine Nacht bei sich behalten. Ihre Fahrradnummer wird Teil des Programms bleiben, zunächst in „angepasster Version“. Bei der Premiere waren alle Radler wieder auf dem Seil, selbst die am Vorabend verletzten. Allerdings verzichtete die Truppe auf den höchsten Schwierigkeitsgrad.

Zirkusmitarbeiter ziehen Sichtschutz für die Verletzten hoch

Die Fahrradnummer wird vorerst aus dem Programm genommen

Selbst für ein Publikum, das seit Jahren mit preisgekrönten Darbietungen verwöhnt wird, ist die neue Show mit 100 Artisten und 45 Pferden reich an Wow-Momenten. Der Kitsch, der beim russischen Disneyland letztes Mal nicht allen gefallen hat, ist deutlich zurückgefahren, übrigens vom selben Regisseur, dem Zirkuserneuer Gia Eradze aus Russland, der schon vor einem Jahr für das Programm verantwortlich war. Kein Bling-Bling, weniger Glamour, dafür hohe Artistenkunst, etwa beim Chinesischen Staatscircus oder bei der „fliegenden Weihnachtsbraut“. Hinzu kommen feiner Witz von Clownstar Bello Nock aus Florida und gefährliche Performance von Lucky Hell, die sich Schwerter mit einer Länge von 40 Zentimeter in den Rachen steckt. „Auch das ist kein Fake“, versichert van der Meijden, „beim Röntgen wurde bewiesen, dass ihr Schwert bis in den Magen reicht.“

Mit raffinierten Lichtinszenierungen und hohem Tempo werden klassische Elemente noch weiter verfeinert. Nervenkitzel, Melancholie, Ästhetik und poetische Reminiszenzen faszinieren ebenso wie das Mitfiebern bei gefährlicher Artistenleistung. Das Timing ist perfekt. Im zweiten Jahr ohne Elefant und Co. ist die Show so gut, dass Wildtiere kein Thema mehr sind. Im nächsten Jahr werden übrigens hier Hunde auftreten.

Was macht der OB im Scheinwerferlicht? Will er das Wildtierverbot höchstpersönlich kontrollieren? Plötzlich steht einer in der Manege, der aussieht wie Fritz Kuhn. Er ist Jongleur des Duos Strahlemann & Söhne, das wir zuletzt im Palazzo gesehen haben. Auch in der Politik wird oft jongliert, allerdings muss sich der Rathauschef dabei nicht auch noch ausziehen und die Kleider mit dem Kollegen austauschen. Würde man sich wundern, wenn die Zirkusstadt Stuttgart einen OB hat, der Artist ist?

„Die besten Städte für einen Weltweihnachtscircus sind Stuttgart, Amsterdam und Hamburg“, sagt Henk van der Meiiden. Zum Zirkusfan ist der gelernte Journalist vor mehreren Jahrzehnten geworden, als er sich als Volontär bei einer Vorstellung in eine 17-jährige Artistin verliebt hat. Aus dem Journalisten, der gern Zirkuskritiken schrieb, ist ein Zirkusdirektor mit Herz und höchsten Ansprüchen geworden. Als er vor 30 Jahren mit einer Artistengruppe in Stuttgart war, erlebte er, wie einzigartig hier das Publikum ist. Deshalb beschloss er damals, seinen ersten Weltweihnachtscircus am Neckar zu eröffnen. Bis heute hat er es nicht bereut.

Der 18-jährige Kevin Richter rast mit 23 Pferden seiner Ungarischen Post durch die Manege – Weltrekord! Zwei junge Männer der Martinez-Familie haben für ihre Ikarischen Spiele, also mit einer Fuß-auf-Fuß-Nummer, gleich bei drei wichtigen Festivals jeweils Gold gewonnen und sind im Januar nach Monte Carlo eingeladen. Sein Zirkus vergleicht van der Meijden völlig zur Recht mit den „Olympischen Spielen der Goldgewinner“. Stuttgart wird stets an Weihnachten zur deutschen Artisten-Hauptstadt.

Dass sein Zirkus kein Fake ist, hätten wir dem Chef gern auch ohne Unfall geglaubt. Doch das Ende ist nach dem Absturz-Schock happy. Die große Zirkusfamilie befindet sich mit dem Publikum im Glück.

Karten für etwa 40 Vorstellungen bis zum 6. Januar gibt es unter Telefon 0711-22 11 05 oder an der Zirkuskasse.