Die USA warnen eindringlich vor den Extremisten des „Islamischen Staates“. Um denen keinen Rückzugsraum zu bieten, werden erstmals Luftangriffe auf Syrien ernsthaft erwogen. Zudem werden Verbündete im Bodenkampf gesucht.

Washington - Die Botschaft aus dem Pentagon ist ungeschminkt. Um die Brigaden des „Islamischen Staates (IS)“ zu bekämpfen und eine Kernschmelze der arabischen Staatenwelt zu verhindern, sind wesentlich intensivere internationale Militäraktionen nötig – wahrscheinlich auch in Syrien. Die IS-Krieger sind „jenseits von allem, was wir bisher gesehen haben“, erklärten Verteidigungsminister Chuck Hagel und Generalstabschef Martin E. Dempsey und sprachen von einem „neuen Paradigma“ der Bedrohung. „Sie verknüpfen Ideologie mit ausgefeilten strategischen und taktischen Fähigkeiten. Sie sind finanziell unglaublich gut ausgestattet.“

 

Um diese Langzeitgefahr zu kontern, müssten „alle Instrumente nationaler Macht – diplomatische, wirtschaftliche, geheimdienstliche und militärische“ eingesetzt werden, erklärten die beiden Chefmilitärs, wobei sie offen ließen, ob damit auch Bodentruppen gemeint sind. Mit dieser dramatischen Pressekonferenz haben die Vereinigten Staaten für sich und ihre Alliierten erstmals neue Maßstäbe abgesteckt – für die „apokalyptische“ Gefahr der IS, für die Bedrohung der nahöstlichen Region und der westlichen Welt sowie für die Dimensionen der erforderlichen Gegenwehr.

Luftangriffe helfen nicht immer

Denn die Pentagonplaner wissen, dass sich eine hochmotivierte, taktisch geschulte und exzellent bewaffnete Truppe wie IS nicht allein durch Luftangriffe ausschalten lässt. Raketentreffer können Konvois, die einen Angriff vorbereiten, oder einzelne gepanzerte Fahrzeuge und Geschütze zerstören. Aus eroberten Städten jedoch lassen sich die Dschihadisten aus der Luft nur vertreiben, wenn man ganze Wohnviertel in Schutt und Asche legt – eine Erfahrung, die die Bewohner der im Januar besetzten irakischen Stadt Fallujah bereits machen mussten. Ganze Straßenzüge liegen in Trümmern, mehr als 200 000 Einwohner sind geflohen. Unter der Erde haben die Gotteskrieger Netzwerke von Tunneln angelegt, die es ihnen erlauben, überraschend anzugreifen und sich sofort wieder zurückzuziehen. „Wir können sie nicht schlagen“, erklärte ein irakischer Offizier. „Sie sind wie Geister – sie tauchen auf, schlagen zu und sind Sekunden später wieder wie vom Erdboden verschluckt.“ Auch die Erfahrungen der Nato-Operationen in Libyen vor drei Jahren zeigen die Grenzen eines modernen Luftkrieges.

Die IS-Extremisten im Irak sind zudem bestens bewaffnet. Allein in Mosul fielen ihnen Waffen und Fahrzeuge amerikanischer Herkunft für 60 000 Mann in die Hände. Aus Beständen der syrischen Armee verfügen sie über mindestens 20 Panzer. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte schätzt die Zahl der Kämpfer inzwischen auf 50 000 Mann, darunter 12 000 Ausländer aus insgesamt 50 Staaten der Welt. Abertausende neuer Dschihadisten werden durch die IS-Siege im Irak angelockt. In Syrien und Mesopotamien kontrollieren die Extremisten inzwischen 40 Prozent des Territoriums, insgesamt eine Fläche von der Größe Großbritanniens.

Mehr als 190 000 Tote in drei Jahren

„Wenn Sie mich fragen, ob IS geschlagen werden kann, ohne auch den Teil der Organisation in Syrien anzugreifen – die Antwort ist nein“, erklärte Generalstabschef Martin E. Dempsey, der bisher stets vor einer militärischen Intervention gewarnt hatte. Luftangriffe in Syrien würden die USA und den Westen nach gut drei Jahren erstmals offen in den Bürgerkrieg hineinziehen, der bisher 191 000 Menschen das Leben gekostet hat. Anderenfalls behielte IS auf syrischem Territorium einen Rückzugsraum für ihre Kämpfer.

„IS muss überall bekämpft werden, in Irak wie in Syrien“, plädiert Atheel al-Nujaifi, der ehemalige Gouverneur der Niniveh-Provinz, der aus Mosul in den kurdischen Nordirak geflohen ist. „Das Problem ist jedoch, Verbündete auf dem Boden zu finden, die Jets allein können die Schlacht nicht gewinnen.“ Die sunnitische Bevölkerung im Irak und Syrien aber wird sich für einen totalen Kampf gegen IS nur mobilisieren lassen, wenn die schiitisch dominierten Regime in Bagdad und Damaskus endlich ihren politischen Forderungen entgegen kommen. In Syrien werden Aufstand und Bürgerkrieg gegen Bashar al-Assad mehrheitlich von Sunniten getragen. Im Irak machen viele Sunniten mit den Radikalen gemeinsame Sache, weil sie sich in den letzten acht Jahren von der Zentralregierung unter Premierminister Nuri al-Maliki diskriminiert fühlten. Dessen Nachfolger Haidar al-Abadi gilt als kompromissbereiter, ob dies allerdings reicht, um die Sunniten wieder auf die Seite Bagdads zu ziehen, ist offen.

Schlechte Erfahrungen mit Gegenwehr

Denn wer sich im Herrschaftsgebiet des „Islamischen Kalifates“ den IS-Kriegern entgegenstellt, riskiert alles. Das sunnitische Dorf Zowiya nahe Tikrit wurde dem Erdboden gleichgemacht, mehr als 200 Häuser in die Luft gesprengt. „Was wir dort gesehen haben, ist in unserer Geschichte ohne Beispiel“, berichtete ein Überlebender. Das Schicksal der Dorfbewohner sei „eine Warnung an alle, die auch nur darüber nachzudenken wagen, gegen den Islamischen Staat zu kämpfen“, brüsteten sich dagegen die Angreifer im Internet. In Ostsyrien wehrten sich Angehörige des Shueitat-Stammes gegen die Beschlagnahme ihrer Ländereien und verjagten die IS-Jihadisten. Letzten Monat kamen diese zurück und nahmen fürchterliche Rache.

Hunderte Mitglieder des Stammes wurden verschleppt und getötet, einige auf offener Straße mit Messern abgeschlachtet. „Ich kann nicht begreifen, warum die USA im Irak bombardieren und nicht in Syrien, wo die IS seit mehr als einem Jahr ihre Basis aufgebaut hat“, zitiert die „New York Times“ einen der Überlebenden des Massakers, der sich verwundet retten konnte. „Ich wünschte, wir könnten die Amerikaner überzeugen, alle IS-Stützpunkte zu beschießen, wo immer sie sich befinden.“