Wird aus der Willkommenskultur eine Abschiebekultur? Der Mord an der Freiburger Studentin bringt neuen Sprengstoff in die Flüchtlingsdebatte. Die Talkrunde bei „Maischberger“ bemüht sich um differenzierte Töne – mit einer Ausnahme.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Seit der Silvesternacht hat kein Gewaltdelikt mehr in solchem Maße dazu eingeladen, Ängste und Vorurteile gegenüber allen Fremden zu schüren, wie der Freiburger Fall: ein Mord in Verbindung mit einer Vergewaltigung durch einen jungen Afghanen – diese Mischung lässt die Wogen hochgehen. Die ARD-„Tagesschau“ hatte die Brisanz der Ereignisse zunächst unterschätzt, nun nahm sich „Maischberger“ in demselben Sender des Themas an.

 

Die AfD ist mittlerweile an fast jeder Talkrunde über Flüchtlinge beteiligt und versucht die sich ihr bietende Chance kühl zu nutzen: „Nicht jeder, der kommt, ist ein Geschenk“, sagt deren Vorstandsmitglied Alice Weidel. Das Problem mit den Migranten sei strukturell und nicht auf einen Einzelfall zu reduzieren. „Jeder Tod durch einen sogenannten Flüchtling ist ein Tod zu viel.“ Sofort personifiziert Weidel: „Selbstverständlich“ sei Kanzlerin Angela Merkel „indirekt mitverantwortlich“ dafür.

„Fassungslos“ reagiert der Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak. Er wisse gar nicht, was man dazu sagen solle, wenn so ein „dummes Zeug“ erzählt werde. Der Tod der 19-jährigen Medizinstudentin werde dazu missbraucht, „ganz billig politisches Kapital daraus zu schlagen“. „Das ist einfach schlimm.“ Weidel weist dies als „pure Polemik“ zurück und keilt polemisch zurück: „Sie tun doch nichts.“

Ziemiak zieht sich fortan auf die aktuelle Position der CDU zurück, dass mehr zu Begrenzung der Asylbewerberzahlen getan werden müsse. „2015 darf sich nicht wiederholen.“ Ranga Yogeshwar, ARD-Moderator und Flüchtlingshelfer, versucht es derweil auf die verständnisvolle Art: Ob Weidel nicht vielleicht den Fehler mache, etwas als allgemeine Wahrheit hinzusetzen, was faktenmäßig nicht gedeckt sei, erkundigt er sich dezent bei der Nebensitzerin.

Auch Boris Palmer, der Tübinger Oberbürgermeister, steckt offenkundig im Dilemma, gegen die Pole in dieser Debatte anreden zu müssen. Sei es wirklich dasselbe, wenn ein Flüchtling eine solche Tat begeht oder ein Mensch, der immer schon hier war? Viele würden sagen: Ja. Andere könnten es nicht verstehen, warum der Afghane überhaupt herkommen durfte. „Wir müssen beide Reaktionen zulassen“, wendet der Grüne wie ein Volkstherapeut ein.

„Die Freiburger stehen jetzt zusammen“

Besonders an dieser Talkrunde ist der Gastauftritt des Freiburger Flüchtlingshelfers Hans Lehmann. Der Mann, der nun in anonymen Mails und Schmähbriefen beschuldigt wird, „für die Kloake von Kriminalität in Freiburg“ verantwortlich zu sein, rückt die Dinge mit einfachen Worten zurecht: „Ich kann damit umgehen“, sagt er. Die Gleichgesinnten offenbar auch: Beim Helferfest am Abend zuvor hätten die 150 Anwesenden eine Jetzt-erst-recht-Stimmung verbreitet: „Jetzt stehen wir zusammen.“ Bei einer Kundgebung am Sonntag hätten 30 Demonstranten der AfD immerhin 300 Gegendemonstranten gegenübergestanden – „Freiburg-typisch“, wie Lehmann meint. Die Stadt sei eben so liberal gesinnt.

Folglich resümiert der pensionierte Schuldirektor: „Das wird Freiburg nicht umhauen.“ Doch die (politische) Giftspritze sei „angesetzt“. Die Reaktionen wären nicht so kontrovers ausgefallen, wenn ein gebürtiger Deutscher die Tat begangen hätte, wendet Lehmann ein. Hier werde ein Einzelfall zum Massenphänomen hochstilisiert. Dabei sieht er selbst die Lage durchaus differenziert: Beim Umgang mit der Willkommenskultur seien Fehler gemacht worden. Die Asylbewerber seien anfangs mit Geschenken überhäuft worden. Die Kleiderkammer sei größer gewesen als ein Warenhaus. 440 Flüchtlingen seien zunächst von 450 Helfern umsorgt worden. Freiburg eben.

Lehmann weiß von einem anderen Schuldirektor zu berichten, in dessen Berufsschule der mutmaßliche Mörder gegangen ist, dass die Tat für dessen Lehrer völlig unerwartet gekommen sei: der 17-jährige Afghane sei demnach ein „fleißiger“ und „liebenswerter“ Schüler gewesen. „Nicht nachvollziehbar“ nennt der Ortsvorsitzende eines Freiburger Bürgervereins den Gewaltakt.

Streit um die Kriminalitätsstatistik

Sind Ausländer krimineller als Deutsche? Dieses Urteil hält sich in der Bevölkerung hartnäckig. 208 000 von Migranten begangene Fälle – mithin „Verbrechen“ wie Drogenhandel, Sexualdelikte oder Körperverletzungen – würde die Statistik des Bundeskriminalamtes für 2015 auflisten, sagt Weidel. „Das sind pro Tag 570 Fälle und pro Stunde 23 Fälle.“ Palmer rückt die Zahlen zurecht. „Das ist komplexer“, sagt der Tübinger OB. Bei 6,2 Millionen Straftaten insgesamt müsse man die statistischen Korrekturfaktoren wie Alter, Einkommen oder Bildung berücksichtigen, dann seien Ausländer im Durchschnitt nicht als krimineller anzusehen. Es sei „extrem schwer“, darüber zu reden. „Das habe ich selbst auch in meiner Stadt erlebt.“ Dort sei er aufgefordert worden, doch gleich in die AfD zu wechseln. Man müsse sich aber der „ehrlichen Problemanalyse“ stellen, um die man sich zunächst herumgedrückt habe, mahnt der Grüne. „Es geht immer gleich um eine Links-Rechts-Diskussion.“

Die frühere Bundespräsidentenkandidatin Gesine Schwan lobt: „Palmer geht soziologisch ran, nicht moralisierend.“ Dies sei aufklärend. Mit Angst werde Politik gemacht, beklagt die Sozialdemokratin. Von ihren Einlassungen bleibt vor allem der „Biodeutsche“ in Erinnerung. Und Yogeshwar versucht einen schrägen Vergleich, um die Absurdität der Statistikdebatte aufzuzeigen: Männer säßen 16 Mal häufiger im Gefängnis als Frauen – dennoch würde man die Männer nicht abschaffen.

Hohe Zahl potenzieller Abschiebungen

Maischberger lässt einen Bericht über eine McKinsey-Studie für das Bundesmigrationsamt Bamf einspielen, wonach im nächsten Jahr 485 000 Flüchtlinge ausreisepflichtig seien, voraussichtlich aber nur 85  000 ausgewiesen würden. Die Union will nun sogar die Abschiebungen von kranken Asylbewerbern forcieren, wenn es nach den Hardlinern geht. Da werde ein „Bild von Herzlosigkeit und Härte“ gezeichnet, mit dem sie sich nicht identifiziere, wendet Gesine Schwan ein. Manche, die da abgeschoben werden sollen, seien doch schon zehn Jahre da.

Palmer nutzt die Gelegenheit, für ein Einwanderungsgesetz zu werben, um Asylbewerbern, die in Deutschland vor allem arbeiten wollen, einen „Spurwechsel“ zu erlauben. Ziemiak meint, dass die Mehrheit in der CDU – anders als die Kanzlerin – so ein Gesetz befürwortet. Das werde in der nächsten Legislaturperiode besprochen, kündigt der JU-Chef an. Und AfD-Vorstandsmitglied Weidel zeigt ihre Form der Willkommenskultur: Wer in diesem Lande arbeiten und sich integrieren wolle sowie der Sprache mächtig sei, „ist herzlich willkommen“.