Kanzlerin Angela Merkel präsentiert sich in der NSA-Abhöraffäre als Hüterin der Daten europäischer Bürger – und vollzieht einen abrupten Kurswechsel. In Deutschland häufen sich derweil die kritischen Fragen, auf die das Kanzleramt keine Antwort weiß.

Berlin - Es kommt nicht oft vor, dass Kanzlerin Angela Merkel (CDU) derart forsch und unmissverständlich zur Sache kommt wie in diesen Tagen. Der Grund: Merkels Mobiltelefon wurde offenbar in der Vergangenheit vom US-Geheimdienst National Security Agency (NSA) abgehört. Sie telefonierte deshalb mit Barack Obama, ließ ihre Protestnote umgehend publik werden und machte so den folgenden EU-Gipfel zum Spielfeld für eine beispiellos hart geführte Auseinandersetzung der EU mit dem engsten Verbündeten, den USA. Für die sonst lieber abwartende Kanzlerin ist das alles andere als üblich. Sie macht so etwas eigentlich nur, wenn sie sich in Gefahr wähnt.

 

Die Offensive ist eines ihrer letzten Mittel der Selbstverteidigung. Eines dieser raren, dafür aber umso eindrucksvolleren Beispiele ist ihr atemberaubender Kurswechsel in der Atompolitik nach der Kernschmelze in den Reaktorblöcken von Fukushima. Merkel erkannte damals sofort, dass die Schlacht um die Nutzung der Atomenergie verloren war und ein Festhalten an ihrem atomfreundlichen Kurs sie in Gefahr bringen könnte. Also warf sie das Ruder herum.

Merkel ändert abrupt ihren Kurs

Ihre Aufarbeitung des NSA-Skandal folgt einem ähnlichen Muster. Auch diesmal änderte sie abrupt ihren Kurs just in dem Moment, indem sie selbst betroffen war. An der Seite des französischen Präsidenten François Hollande präsentiert sie sich jetzt als Europas oberste Datenschützerin. Nun ist das Abhören ihres Telefons durch einen Partnerdienst in der Tat ein ungeheuerlicher Vorgang. Aber ihr aggressives Krisenmanagement lässt auch den Schluss zu, dass sie nicht nur empört ist, sondern sehr wohl auch die Gefahr spürt, die sich für sie in dieser Staatsaffäre verbirgt.

Allein der Ablauf ist ein Indiz: Am Donnerstag vor einer Woche stellte das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ beim Bundeskanzleramt die Anfrage, ob Erkenntnisse darüber vorlägen, dass das Mobiltelefon der Kanzlerin abgehört werde. Offenbar war die Faktenlage des „Spiegels“ noch vage. Sie basiert auf dem Fund der Handynummer Angela Merkels in einem der Papiere von NSA-Überläufer Edward Snowden. In Regierungskreisen heißt es, nach diesem Hinweis hätten das Bundesamt für Informationssicherheit (BSI) und die eigenen Geheimdienste die Angelegenheit überprüft und belastende Indizien gefunden – allerdings keine Beweise.

Hollande präsentierte sich als Anwalt der Bürger

Anfang der Woche spitzte sich dann aber die Lage zu. In Frankreich war berichtet worden, dass auch dort massenhaft ausgespäht worden sei. Hollande tat das, was Merkel im Sommer unterließ, als Ähnliches über NSA-Schnüffelpraktiken in Deutschland bekannt wurde. Er ging US-Präsident Barack Obama hart an, präsentierte sich als Anwalt der Bürger und bestellte den US-Botschafter ein. Merkel lief deshalb Gefahr, auf dem EU-Gipfel in Brüssel von einem in heroischer Pose um Bürgerrechte kämpfenden Hollande an die Wand gespielt zu werden und kurz darauf mit der „Spiegel“-Schlagzeile konfrontiert zu werden, sie selbst werde auch abgehört. In Regierungskreisen ist zu hören, dass die Kanzlerin es deshalb vorzog anzugreifen, statt abzuwarten. Auch deshalb, weil sie so zumindest die Rolle des Opfers einnehmen konnte, das sich wehrt. Angela Merkel setze auf den Sympathiebonus und die Solidaritätsbekundungen, die eine solche Strategie verspreche, um so die drohende Gefahr schadlos zu überstehen, heißt es.

Nicht nur Ronald Pofalla die NSA-Affäre für beendet erklärt

Unangenehm ist für sie nicht allein der Umstand, dass im August nicht nur Kanzleramtsminister Ronald Pofalla, sondern auch sie selbst die NSA-Affäre für beendet erklärt hatte, nur weil die NSA zusicherte, der Dienst halte sich an das Gesetz. Das habe sich damals ausschließlich auf den Vorwurf des millionenfachen Datenklaus bezogen, nicht auf die aktuellen Vorwürfe, heißt es nun aus dem Kanzleramt. Dazu passt aber nicht, dass Merkel jetzt sagt, es gehe nicht allein um ihre Privatsphäre, sondern um den Schutz aller Bürger. Denn die waren laut Pofalla angeblich ja gar nicht betroffen. Das führte dazu , dass in der routinemäßigen Regierungspressekonferenz am Freitag die Frage gestellt wurde, ob Pofalla davon ausgehe, einzig und allein die Kanzlerin, nicht aber die Bürger würden abgehört.

Mindestens ebenso brisant ist für Merkel, weshalb das BSI und die deutschen Geheimdienste erst nach einer Anfrage des „Spiegels“ der naheliegenden Frage nachgingen, ob Regierungsmitglieder abgehört wurden. Ganz generell wirft der Fall die Frage auf, wie es um die Spionageabwehr in Deutschland bestellt ist. Ein Bericht der „Süddeutschen Zeitung“, wonach die Lauschaktion von der US-Botschaft in Berlin organisiert worden sei (siehe Infokasten), wird von dem Vizeregierungssprecher, Georg Streiter, mit dem Satz abgetan, man habe darüber keine Erkenntnisse und müsse deshalb auch nicht über Gegenmaßnahmen nachdenken. Dabei könnte dieser Verdacht aus Sicht des Kanzleramts naheliegen, denn schon im September hatte die Bundesregierung eingeräumt, dass der Verfassungsschutz mit einem Helikopter das US-amerikanische Konsulat in Frankfurt überflog und dabei hochauflösende Fotos machte. Offenkundig war es das Ziel, sich ein Bild von Abhöranlagen auf dem Dach zu machen.

„Das war gestern und jetzt ist heute“

Der Fall förderte außerdem die für das Kanzleramt peinliche Erkenntnis zu Tage, dass die Fragenkataloge, die der amerikanischen Seite von der Bundesregierung im Juli zugestellt wurden, allesamt nach wie vor nicht beantwortet worden sind. Es sei auch nicht nachgehakt worden, sagte eine Sprecherin des Justizministeriums. Um solche Fragen abzutun, prägte der Vizesprecher Streiter den bemerkenswerten Satz: „Das war gestern, und jetzt ist heute.“ Ob er damit sagen wolle: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Nein, antwortete Streiter. Er sei nur der Meinung, dass dies „eine rückwärtsgewandte Diskussion“ sei. Genau die fürchtet die Kanzlerin.