Die Chefin des Stuttgarter Literaturhauses, Stefanie Stegmann, hat zwei Jahre in der Ukraine gelebt – lange genug um zu wissen, dass die Lage komplexer ist als das einfache West-Ost-Schema Glauben macht. Um die verkrusteten Strukturen in den Köpfen aufzubrechen, hat sie Autoren aus dem Land eingeladen.

Stuttgart - - Die Stuttgarter Literaturhaus-Chefin Stefanie Stegmann hat zwei Jahre in der Ukraine gelebt, lange genug um zu wissen, dass die Lage komplexer ist als das einfache West-Ost-Schema Glauben macht. Um die verkrusteten Strukturen in den Köpfen aufzubrechen, hat sie Autoren aus dem Land eingeladen.
Frau Stegmann, wenn Ihre Diskussionsreihe zur Ukraine in der nächsten Woche beginnt, ist das Land möglicherweise ein anders als heute. Überrascht Sie diese Dynamik?
Stefanie Stegmann. Foto: Ingo Schneider
Als ich vor zwei Monaten zusammen mit der Robert-Bosch-Stiftung anfing über dieses Projekt nachzudenken, ging ich davon aus, dass der Aufruhr in der Ukraine bis wir diese Reihe auf die Beine gestellt haben würden schon wieder vorbei sei. Dass wir unter so angespannten politischen Bedingungen über das Land sprechen würden, habe ich nicht erwartet.
Sie kommen gerade aus Kiew. Was für eine Stimmung herrscht dort?
Ich habe die Atmosphäre in der Stadt, die ich schon während meiner zwei Jahre in Czernowitz einige Male besucht habe, sehr merkwürdig empfunden. Die Zeltstadt auf dem Maidan steht noch, aber sie wird mittlerweile von unangenehm wirkenden Männern, vielfach in Tarnanzügen dominiert. Der Maidan ist zugleich Teil der Flaniermeile Kiews, in der die großen internationalen Marken ihre Filialen haben. Die Leute klettern an den Barrikaden vorbei und shoppen, gehen ihren Alltagsgeschäften nach. Andere bleiben stehen, weinen. Alles findet gleichzeitig statt: Spontanzusammenbrüche, Männer in Militärkleidung, Armani und Dior. Eine Ecke weiter applaudieren Jugendliche einer Breakdance-Gruppe. Und dazwischen schießen ein paar Maidan-Touristen mit ihren Smartphones Fotoserien von den Barrikaden.
Im Westen werden die Barrikaden auf dem Maidan dem Freiheitskampf zugeordnet, die im Osten der russischen Okkupation?
Der Glaube, dass Ideologie und Propaganda nur auf einer Seite existieren, stimmt natürlich nicht. Unser Blick ist auch nicht neutral. Aber jenseits dessen gibt es graduelle Abstufungen von Propaganda und ihren Möglichkeiten. Die Lage ist sehr unübersichtlich. Es gibt wohl diese rechten Gruppen und Strömungen, aber man darf darüber nicht vergessen, dass ein beträchtlicher Teil der Menschen tatsächlich aufgrund ihres Unrechtsbewusstsein auf der Straße war.
In Ihrer Reihe stehen die Intellektuellen im Mittelpunkt. Welche Rolle spielen sie?
Es stellt sich die Frage, wer im Moment überhaupt Auskunft geben kann: Ein Boxer oder ein Schriftsteller. Das sagt auch etwas über ein Land aus und über unseren Blick auf dieses. Das ukrainische Bildungssystem kritisch beäugend schenkt man einem Topsoziologen aus Kiew hier eher weniger Glauben. Künstlern und Autoren billigen wir eine größere Autonomie zu.
Und in der Ukraine?
Man hört sie auch dort. Ein Dichter wie Serhij Zhadan, der hier vielleicht fünfzig Zuhörer ins Literaturhaus lockt, füllt in der Ukraine Säle mit dreihundert, vierhundert vor allem jungen Leuten. Er hat dort den Status eines Popstars, eines sehr klugen.